Gruppe I

Der Friedhof in meinem Stadtteil ist schön, wie ein großer Park mit rauschenden Nadelbäumen. Leute kommen und gehen, manche schieben ruhig und zielstrebig ihre Fahrräder, auf denen Eimerchen und Taschen befestigt sind, aus denen Handschuhe und Werkzeug hervorluken. Gedankenverloren pflegen sie die Gräber ihrer Angehörigen. Dabei geht von ihnen eine ruhige Würde aus, weil sie nichts zurückerwarten, während sie in unbequemer Haltung die Erde um die Grabeinfassung kruppern. Sie erweisen jemandem einen lieben Dienst, der es womöglich gar nicht weiß. Es gibt auch viele Spaziergänger, zum Beispiel junge Eltern, die die Kinderwägen auf den großzügigen Wegen zwischen den Grabanlagen entlangschieben. Oder Pärchen beim Abendspaziergang.

Einmal kam ein junges Pärchen an mir vorbei. Ich saß auf einer Bank. Der junge Mann schien aufgewühlt und fast verärgert, seine Begleiterin redete etwas auf ihn ein. Ich dachte, sie hätten sich vielleicht gestritten und dachte „wahrscheinlich völlig unnötig“, erinnerte mich dabei an einige Episoden in meinem eigenen Leben. Aber dann dachte ich, „wer weiß“. Nach einer kurzen Weile kam der junge Mann zurück und fragte mich, wo Gruppe 1 zu finden sei. Das war eine der Urnengemeinschaftsanlagen. Da läge sein Vater, er sagte mir den Namen. Ein Anwalt hätte diese Info für ihn herausgefunden. Und während er dies sagte, prüfte er es gleich noch einmal nach. Ich sagte, das täte mir Leid, es gebe einen schönen Ort mit diesem Namen, aber wo der Vater läge, wüsste ich leider nicht. Ohne es genau zu wissen, wies ich ihm die etwaige Richtung zur Gruppe 1, nicht weit vom Eingang (die Aufteilung des Friedhofs kannte ich grob). Die beiden eilten dorthin, zwischen Gräbern hindurch. Natürlich schaute ich umgehend im Internet nach, suchte den „Belegungsplan“ und stellte fest, dass der Weg, den ich gewiesen hatte, richtig gewesen war – zum Glück. Man will ja niemanden in die Irre leiten.

Später ging ich selbst in die Richtung, um gegebenenfalls mitzusuchen, falls sie das wollten, denn Urnengemeinschaftsgräber gab es doch einige hier. Ich sah die beiden und fragte den jungen Mann aus einigem Abstand, ob er es gefunden hätte, das Grab. Er nickte nur und wischte sich die Tränen aus den Augen, seine Begleiterin stand etwas weiter weg. Es tat mir so Leid. Aber ich konnte nichts weiter tun. Also wünschte ihm alles Gute und ließ die beiden in Ruhe. Er trauerte um seinen Vater, den er schon lange verloren oder vielleicht gar nicht gekannt hatte. Und jetzt niemals kennen würde. Jetzt erschien es mir fast wünschenswert, der junge Mann und seine Begleiterin hätten sich doch „nur“ gestritten. Wenigstens hat er das Grab gefunden. Zugegeben: ein schwacher Trost.

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