Leise Durch Mauern hindurch

Ich glaube es kam erst heraus, als meine Oma mit über 90 Jahren aus ihrer kalten, eher düsteren Altbauwohnung in ein helles kleines Apartment im Betreuten Wohnen ganz in der Nähe zog.

In der Wohnung hatte sie Jahrzehnte gewohnt, ich denke, wahrscheinlich etwa 50 Jahre, hatte dort viele wichtige Zeiten ihres Lebens verbracht – mit meinem Opa, der bereits über 20 Jahre tot war, und den Kindern. Verwandte waren zu Besuch gewesen, die ebenfalls schon längst nicht mehr lebten, die ich nur aus Geschichten kannte. Oft hatten wir uns an den warmen, altrosa-farbenen Kachelofen angelehnt in Erwartung von leckeren Rouladen (am 2. Weihnachtsfeiertag) oder der unvergesslichen Stachelbeertorte (zu Geburtstagen, das Rezept kann bis heute keiner wirklich nachbacken). Als ich noch ein Kind war, hatten wir (vor allem meine Schwester und ich) dann ein altes Kugelspiel gespielt, den feinen Seifenduft der Kommode wahrgenommen, wo sie geliehene Bücher aufbewahrte, über die wir uns unterhielten.

Sie hatte eigentlich gar nicht mehr ausziehen wollen („einen alten Baum verpflanzt man nicht“). Aber dann, eher plötzlich, verkündete sie den Entschluss doch umziehen zu wollen (nachdem wir schon nicht mehr daran glaubten, denn meine Oma hatte einen eisernen Willen). Es war höchst erstaunlich. Aber sie wollte niemandem zur Last fallen, vielleicht hing es auch damit zusammen (die Kohlen mussten hochgeschleppt werden).

Ob sie wohl manchmal einsam war? Wenn dies so gewesen wäre, hätten wir definitiv nichts davon gemerkt, denn sie hätte sich nichts anmerken lassen.

Als nun die Nachbarn aus dem Nachbarhaus, die ebenfalls seit Jahrzehnten auf derselben Etage wie meine Oma wohnten, davon hörten, dass sie ausziehen würde, erzählten sie ihr bei einer Begegnung folgendes: nämlich, dass sie abends immer hörten, wenn meine Oma im Schlafzimmer die Lampe ausmachte, die sich an der Wand am Kopfende des Bettes befand – sie hörten dies leise durch zwei Mauern hindurch, wohlgemerkt. Diese Lampe hatte wohl ein sehr eigentümliches Klicken und das Nachbarehepaar ging genauso spät ins Bett wie meine Oma. Und sie berichteten weiter: „Und jeden Abend, wenn wir das Klicken hören, sagen wir: ‚Gute Nacht, Frau Pfeiffer.'“
Wäre meine Großmutter nicht umgezogen, hätte sie womöglich niemals erfahren, dass es Menschen gab, die über Jahrzehnte täglich so freundlich an sie dachten – obwohl man sich kaum wirklich kannte.

Fällt mir jetzt erst ein: Meine Oma lebte bewusst asketisch, nur auf eins konnte sie nicht verzichten: guten, starken, schwarzen Filter-Kaffee. Wir spielten, als ich noch ein Kind war, öfter aus Spaß eine Interviewsituation (mit mir als Reporterin), in welcher ich sie zum Geheimnis des guten Kaffeeaufbrühens befragte. Sie machte jedes Mal mit.
Foto ist aber von Eiliv Aceron / Unsplash