„Krank bin ich erst, wenn ich nicht mehr leben kann“

Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel sind Orte des Lernens, das merke ich immer wieder.

Vor einigen Tagen traf ich eine ältere Person an meiner Straßenbahn­haltestelle – ich saß wieder auf der Bank, während ich auf die Bahn wartete. Ich wollte ihr den Platz anbieten, weil sie nicht aussah, als ginge es ihr besonders gut. Sie lehnte dankend ab und sagte, sie könne gar nicht sitzen wegen ihres kaputten Knies. Dabei zog sie ihre Hose leicht hoch, zeigte mir ihr durch Narben gezeichnetes Knie und erzählte mir, dass sie schon mehrere OPs hinter sich hatte. Nun sei sie in Reha, vor allem das Vom-Sitzen-Wieder-Aufstehen falle besonders schwer. Ich sagte, dass mir das Leid täte. Dann erzählte sie mir, dass dies weiter nichts wäre. Aber den Garten hätte sie aufgeben müssen nach vielen Jahren, weil die Gartenarbeit nun nicht mehr so gut gehe. Aber sehr viele Pflaumen hätte sie noch ernten können letztes Jahr und einwecken können. Ja, das mache sie alles selber. Aber nun gehe es halt nicht mehr. Ich nickte nachdenklich, denn ein Garten ist doch schon eine schöne Sache, gerade jetzt wird das Gärtnern ja regelrecht wiederentdeckt und das ist doch ein schöner Ort, um sich zu erholen und in der Natur zu sein, dachte ich. Dann erzählte sie mir, welche Organe ihr schon entfernt worden waren – ich wollte das erst nicht glauben, es waren mindestens vier und dazu welche, die mir sehr wichtig erschienen. Ich glaube, ich fragte noch einmal nach und sie zählte sie ein zweites Mal auf. Aber das sei alles nicht so wichtig, winkte die Frau ab – es war eine Frau. „Ich habe doch meine Wellensittiche“ sagte sie. „Seit über 40 Jahren habe ich Vögel, das ist so schön. Und ach, alles andere… Krank bin ich erst, wenn ich nicht mehr leben kann“, sagte sie wie ganz selbstverständlich und lächtelte. Dann kam die Bahn und wir verabschiedeten uns. Und ich war sehr erstaunt und voller Ehrfurcht.