„An die keiner mehr denkt“

Vor einigen Tagen bin ich meine normale Route auf dem Friedhof in der Nähe gelaufen, als ich einen Gesprächsfetzen von einer Frau und einem kleinen Mädchen mitbekam, das im Kindersitz des Fahrrads über den Friedhof geschoben wurde.

Gerade war ich also dabei, bei den historischen Grabmälern um die Ecke in meine Lieblings-Kiefernallee einzubiegen, als ich hörte, dass die Frau zu dem Mädchen sagte: „Das sind Familien, an die keiner mehr denkt.“ Wahrscheinlich wollte sie dem Kinde das Prinzip Friedhof erklären.

Selbstverständlich war ich empört und überlegte kurz, ob ich mich gleich einmischen sollte. Ich kannte zwar die Familien nicht, aber ich denke so oft an sie, wenn ich an ihren dunklen, massiven Grabsteinen vorbeigehe sowie an der jungen, trauernden Marmorfrau des Jugenstilgrabs, an deren blassen Armen sich nun Efeu windet. Ich stelle mir vor, wie das Leben der Menschen wohl war, wie sie aussahen und welche Sorgen und Freuden sie hatten. Ich denke sehr wohl an sie und bin sicher nicht die Einzige, wenn ich mir überlege, wie viele Menschen den Friedhof besuchen. Ich entschied mich aber, einfach weiter zu gehen.

Fakt ist ja schon, dass die Steine einiger alter Grabmäler ziemlich quer stehen, zum Teil abgesperrt sind und mit Schildern versehen, die darauf hinweisen, dass man das Grabmal im Rahmen einer Patenschaft erwerben könne. Wahrscheinlich war das die Frage des Mädchens, warum die Gräber nicht mehr gepflegt werden. Und da hat die Frau recht: Weil es wahrscheinlich keinen Angehörigen mehr gibt, der sich darum kümmern kann.

Eine kleine bemooste Bank aus Stein vor einem Familiengrab, wo man der Verstorbenen gedenken und ein Gebet für sie sprechen kann.

Aber wenn man oft an den gleichen Gräbern vorbeigeht, die Namen kennt, dann entsteht schon eine (doch soweit ich weiß, recht einseitige) Bekanntschaft — ähnlich derer mit Menschen, die man jeden Morgen beim Pendeln auf dem Bahnsteig sieht. Man ist sich oberflächlich vertraut, ohne sich im Entferntesten zu kennen. Nur sind die Angaben auf den Grabsteinen meines Erachtens dramatischer, weil sie für ein ganzes Leben stehen und oft mit Sprüchen versehen sind, die ins Jenseits reichen, wie:

Warmer Kuchen war sein Tod.

(von einem Dorffriedhof, nur mündlich aus meiner Familie überliefert, habe ich selbst nicht gesehen)

oder

Auf Wiedersehen!

(schon sehr häufig gesehen, besonders im ausgehenden 19. Jahrhundert)

oder:

Gottes Wille ist geschehen.

(auf dem Grabstein eines 18-Jährigen Mädchens auf dem Friedhof nebenan)

Gott ist Liebe, wir werden erwartet.

(auf dem Heger Friedhof in Osnabrück)

Wenn dann noch das alte Porzellanglockenspiel ertönt, das minimal (aber auch nur minimal) verstimmt klingt, ist es ganz wunderbar.

„Ihr lebt! Ihr seid unser!“
Inschrift auf einem Berg-Friedhof in Thüringen für Gefallene der Weltkriege.